ICD-10-GM-2020 F81.2
Rechenschwäche, Rechenstörung, Schwierigkeiten beim Rechnenlernen, Zahlenblindheit – diese Begriffe fasst die Medizin unter dem Fachausdruck Dyskalkulie zusammen. Es handelt sich dabei um eine Leistungsstörung im logisch-mathematischen Bereich, welche biologisch bedingt ist. Sie ist also nicht abhängig vom Entwicklungsalter oder mangelnder Bildung, sondern von fehlerhaften Verbindungen im Gehirn. Meist äußert sich eine Dyskalkulie bereits im Kindesalter. Ärzte grenzen sie daher von der sogenannten Akalkulie (Rechenunfähigkeit) ab, welche erst später entsteht, beispielsweise nach einem Schlaganfall.
Betroffene Kinder haben tiefgehende Probleme mit den Grundrechenarten, verwechseln Zahlen, können sich unter Mengen nichts vorstellen und haben oft auch Schwierigkeiten beim Ablesen der Uhr oder der Einschätzung von Abständen. Auch verwandte Bereiche wie Physik oder Chemie fallen ihnen häufig nicht leicht. Eine Dyskalkulie hat allerdings nichts mit niedriger Intelligenz oder schlechter Bildung zu tun. In vielen Fällen sind Personen in anderen Bereichen sehr begabt und können lediglich logisch-mathematische Aufgaben nicht richtig verarbeiten.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) kategorisiert die Dyskalkulie als schulische Entwicklungsstörung. Laut der Internationalen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme ist sie wie folgt definiert: „Diese Störung bezeichnet eine Beeinträchtigung von Rechenfertigkeiten, die nicht allein durch eine allgemeine Intelligenzminderung oder eine unangemessene Beschulung erklärbar ist. Das Defizit betrifft vor allem die Beherrschung grundlegender Rechenfertigkeiten wie Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division.“
Viele Kinder haben Probleme beim Lösen von mathematischen Aufgaben, aber nur wenige davon leiden wirklich unter einer Dyskalkulie. Im deutschsprachigen Raum sind rund drei bis sieben Prozent der Bevölkerung von einer Rechenschwäche betroffen. Sie tritt somit ungefähr gleich häufig auf wie Lese- und Rechtschreibprobleme.
Prinzipiell ist die Dyskalkulie neuronal bedingt, allerdings spielt häufig auch die psychische Entwicklung eine Rolle. Wenn Kinder bereits früh Schwierigkeiten beim logisch-mathematischen Denken aufweisen, aber die Präventionsmaßnahmen zu spät oder gar nicht zum Einsatz kommen, ist das Risiko für das Entstehen einer gravierenden Rechenschwäche sehr hoch. Bei wiederholten Misserfolgen sinkt nämlich auch oft der Wille der Betroffenen, an dem Defizit zu arbeiten.
Das Gehirn von Personen mit Rechenschwäche nimmt Zahlen nicht als Mengenangaben, sondern lediglich als Symbole wahr. Zahlendreher sind daher keine Seltenheit. Den Betroffenen fehlt es an grundlegendem logisch-mathematischem Verständnis. Sie haben bereits bei den Grundrechenarten Addition, Subtraktion, Division und Multiplikation gravierende Probleme. Außerdem fällt ihnen logisches Denken schwer.
Je nach Alter variieren die genauen Symptome. In der Regel macht sich die Störung schon im Vorschulalter bemerkbar, in manchen Fällen fällt sie aber auch erst später auf. Häufig erkennen Lehrer die Dyskalkulie im Unterricht, da die Leistungen der Kinder immer weiter absinken. Die Schwierigkeiten verschlimmern sich mit zunehmendem Alter, weswegen es äußert wichtig ist, rechtzeitig Hilfsmaßnahmen zu ergreifen.
Anzeichen im Vorschulalter
Bereits bei Kindergartenkindern können Symptome auftreten, die auf die Entwicklung einer Dyskalkulie hindeuten. Folgende Punkte gelten als erste Anzeichen einer Rechenschwäche:
Anzeichen in der Grundschule
Im Grundschulalter fällt eine Dyskalkulie stärker auf. Neben den bereits in der Vorschulzeit auftretenden Symptomen deuten auch folgende Aspekte auf eine mathematische Entwicklungsstörung hin:
Die Medizin geht davon aus, dass ein grundlegendes logisch-mathematisches Verständnis angeboren ist. Es gibt dafür einen eigenen Bereich im Gehirn, weswegen die Rechenkenntnisse größtenteils unabhängig von den Sprachkompetenzen und der Intelligenz sind. Es ist bis heute nicht geklärt, welche Ursachen genau für eine Dyskalkulie verantwortlich sind. Sicher ist allerdings, dass es nicht nur einen Auslöser gibt, sondern dass verschiedene Faktoren zusammenwirken.
Biologische Ursachen
In den meisten Fällen weisen Betroffene weniger neuronale Aktivitäten in jenen Gehirnregionen auf, die für die Mengen- und Zahlenverarbeitung zuständig sind. Dadurch können sie Zahlen keine Bedeutung zuordnen und nehmen sie lediglich als nichtssagende Worte oder Symbole wahr.
Darüber hinaus gibt es Grund zur Annahme, dass auch die Genetik eine Rolle in der Ausbildung einer Dyskalkulie spielt. Untersuchungen von Familien und Zwillingen kamen zu diesem Ergebnis, ein spezielles auslösendes Gen konnten Forscher bisher allerdings nicht entdecken.
Haben Kinder bereits in sehr jungen Jahren Epilepsien, Hirn- oder Entwicklungsstörungen sowie Wahrnehmungsschwächen, führt das möglicherweise ebenso zu einer Rechenschwäche. Weitere Risikofaktoren sind Drogen- und Alkoholkonsum der Mutter während der Schwangerschaft und Frühgeburten.
Soziale Ursachen
Neben den biologischen Faktoren können auch psychosoziale Komponenten die Entwicklung einer Dyskalkulie begünstigen. Dazu zählen beispielsweise Konflikte oder ungünstige Lebensverhältnisse in der Familie sowie Probleme im schulischen Umfeld. Außerdem fallen auch mangelnde Übung und Förderung in diese Kategorie.
Neurotische Störungen wie starke Ängstlichkeit, Aggressivität oder Apathie zählen ebenso zu den möglichen sozialen Ursprüngen von Rechenschwäche.
Die Diagnose von Dyskalkulie sollte möglichst früh erfolgen, damit die Betroffenen rechtzeitige Förderung erhalten können. Es kommen verschiedene Verfahren in Kombination zum Einsatz.
Zunächst ist ein diagnostisches Gespräch erforderlich, die Durchführung übernehmen am besten Schulpsychologen, spezialisierte Kinderärzte oder Kinder- und Jugendpsychiater. Sie befragen das Kind, dessen Eltern und Lehrer zu den genauen Schwierigkeiten und Auffälligkeiten. Darüber hinaus analysieren sie die pädagogische und familiäre Situation, um eventuelle Missstände zu identifizieren.
Ein schulischer Bericht kann zudem helfen, den Lernstand und die Fortschritte aufzudecken. In ihm sind nicht nur die mathematischen Leistungen angeführt, sondern auch die Fähigkeiten in anderen Bereichen sowie die Motivation des Kindes.
Auch eine körperliche Untersuchung ist erforderlich. Der Arzt achtet dabei auf Aufmerksamkeitsdefizite, Sprachprobleme, Gedächtnisstörungen sowie Seh- und Hörschwächen. Durch eine neurologische Begutachtung kann er Reifungsverzögerungen des Kindes erkennen.
Besonders wichtige Bestandteile der Diagnostik von Rechenschwäche sind zwei Dyskalkulie-Tests:
Folgende Kriterien müssen für eine Diagnose von Dyskalkulie erfüllt sein:
Die Behandlung von Dyskalkulie sollte so früh wie möglich beginnen und ist nur auf individueller Basis möglich. Einzeltherapiesitzungen sind daher stets sinnvoller als Gruppentherapien. Das Kind erhält pädagogische und psychologische Förderung, die genau auf seine Probleme abgestimmt ist. Je nach Lernfortschritt passt der Therapeut den Trainingsplan im Laufe der Zeit an. Medizinische Maßnahmen wie Medikamente oder Operationen kommen bei Rechenschwäche nicht infrage.
Die Kombination von mehreren Methoden soll das logisch-mathematische Denken des Kindes fördern und ihm ein Gefühl für Zahlen vermitteln. Die Therapie stützt sich in der Regel auf vier Säulen:
Darüber hinaus ist die Aufklärung der Eltern und Lehrer wichtig. So können sie das Kind bestmöglich unterstützen.
Auch in der Schule sollten Kinder mit Dyskalkulie Unterstützung erhalten. Es ist sinnvoll, die Lehrer in die Therapie miteinzubeziehen, damit sie im Unterricht auf die individuellen Bedürfnisse der Betroffenen eingehen können. Es ist ihnen erlaubt, den rechenschwachen Kindern entweder weniger Aufgaben oder mehr Zeit zum Lösen zu geben. Die Verwendung von zusätzlichen Hilfsmitteln ist ebenso gestattet. Lehrer dürfen und sollen außerdem die Beurteilungskriterien bei rechenschwachen Schülern entsprechend anpassen.
Eltern sollten sich im Klaren darüber sein, dass sie die Förderung des Kindes auch selbst unterstützen müssen. Leistungsdruck und zu hohe Erwartungen sind fehl am Platz, da sie die Frustration und Ängste nur verstärken. Stattdessen gelten Fürsorge, Verständnis und Rückhalt als essenziell.
Durch folgende Maßnahmen kannst Du Dein rechenschwaches Kind fördern:
Wie lange die Therapie einer Dyskalkulie dauert, ist von Fall zu Fall verschieden. Es ist daher keine genaue Vorhersage möglich. In der Regel streckt sich die Behandlung aber über mehrere Jahre.
Eine Dyskalkulie bessert sich mit zunehmendem Alter nicht von selbst. Im Gegenteil – ohne geeignete Therapie verschlimmern sich die Probleme sogar im Laufe der Zeit. Die in der Schule vermittelten mathematischen Kenntnisse bauen aufeinander auf, bei betroffenen Kindern scheitert es allerdings bereits an den grundlegenden Kompetenzen. Aus diesem Grund sind frühe Fördermaßnahmen essenziell, um eine Rechenschwäche auszugleichen. Durch eine individuelle Behandlung sind deutliche Fortschritte in der Leistung und im psychischen Wohlbefinden erzielbar.
Bei einer Dyskalkulie handelt es sich nicht um eine Krankheit im eigentlichen Sinne, sondern um eine Teilleistungsstörung. Aus diesem Grund gilt sie auch nicht als heilbar. Durch eine rechtzeitige Therapie bessern sich zwar die Symptome, die Schwierigkeiten im logisch-mathematischen Denken bleiben normalerweise aber ein Leben lang bestehen.
Mit gezielter Förderung lernen Betroffene, mit Zahlen umzugehen und haben gute Bildungschancen. Die Prognose steht aber deutlich schlechter, wenn sie keine Hilfe erhalten. Jugendliche mit Rechenschwäche sind in der Regel eher frühe Schulabgänger und tun sich häufig auch bei der Berufsausbildung schwer.
Kinder mit Dyskalkulie stehen vielen psychischen Belastungen gegenüber. Sie merken in der Schule selbst, dass sie den Mitschülern hinterherhinken und müssen sich dort auch häufig mit Mobbing auseinandersetzen. Im Alltag haben sie große Probleme beim Ablesen der Uhrzeit oder im Umgang mit Geld, was zu unangenehmen Situationen führen kann. Zusätzlich müssen sie oft mit ungewöhnlich hohem Leistungsdruck umgehen.
Die Folgen dieser Aspekte sind Ängste, Aggression, vermindertes Selbstwertgefühl, Rückzug, Depression, Lern- und Schulverweigerung, Motivationsverlust und Konflikte mit der Familie oder Freunden. Psychisch bedingte körperliche Beschwerden können ebenso auftreten – einige Betroffene klagen über Übelkeit sowie Bauch- und Kopfschmerzen.
Bei manchen Personen treten zusätzlich zur Dyskalkulie andere Störungen wie Lese- und Rechtschreibschwäche (Legasthenie) oder ADHS (Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom) auf. In diesem Fall spricht die Medizin von einer kombinierten Störung schulischer Fertigkeiten.
Da eine Dyskalkulie genetisch bedingt ist, gibt es keine Maßnahmen zur Vorbeugung. Wenn die Rechenschwäche aber bereits in frühkindlichem Alter auffällt, kann sich der Verlauf durch gezielte Förderung deutlich verbessern.
Vor allem psychische Probleme im Zusammenhang mit Dyskalkulie lassen sich aber durchaus vermeiden, indem Eltern und Lehrer betroffene Kinder nicht unter Druck setzen. Stattdessen sollten sie sich ihnen zuwenden und sie bestmöglich in ihrer Entwicklung unterstützen.
Bei begründetem Verdacht und nur wenn ein klinischer Psychologe die Maßnahmen vornimmt, zahlt die Österreichische Sozialversicherung für die Diagnoseuntersuchungen von Dyskalkulie. Die Therapiekosten übernimmt sie aber nicht, da die Teilleistungsstörung laut Krankenkasse keinen Krankheitswert hat. Die Eltern müssen den Geldaufwand also meist selbst stemmen. Die einzige Ausnahme sind kombinierte Störungen schulischer Fertigkeiten, also beispielsweise Dyskalkulie gemeinsam mit Legasthenie oder ADHS.
In Deutschland bekommen Eltern unter gewissen Voraussetzungen finanzielle Unterstützung bei der Behandlung von Rechenschwäche bei ihren Nachkommen. Um einen Anspruch darauf zu haben, müssen in der Regel folgende Kriterien erfüllt sein:
Für nähere Informationen zur Kostenübernahme wendest Du Dich am besten direkt an Deinen Sozialversicherungsträger.
Mathematik ist wohl eines der meistgehassten Unterrichtsfächer in der Schule. Die Gründe dafür sind verschieden, vor allem fällt es vielen Menschen nicht leicht, mathematische Aufgaben zu lösen. Sind die Schwierigkeiten bei Kindern sehr gravierend, diagnostiziert die Medizin unter Umständen eine sogenannte Dyskalkulie. Woran Du erkennen kannst, ob Dein Kind betroffen ist, welche Ursachen es für die Rechenschwäche gibt und was Du dagegen tun kannst, erfährst Du in diesem Text.
AUTOR
Dr. med. Benjamin Gehl
Medizinischer Experte
CO-AUTOR
Maja Lechthaler
Online-Redaktion
Dieser Text wurde nach höchsten wissenschaftlichen Standards verfasst und von Medizinern geprüft.
Inhaltsverzeichnis
Was versteht die Medizin unter einer Dyskalkulie?
Wie häufig ist die Dyskalkulie und wer ist besonders davon betroffen?
Was sind die Symptome einer Dyskalkulie?
Welche Ursachen hat eine Dyskalkulie?
Wie diagnostiziert der Arzt eine Dyskalkulie?
Was sind die Voraussetzungen für die Diagnose Dyskalkulie?
Wie wird eine Dyskalkulie behandelt?
Welche Rolle spielt die Schule bei der Behandlung einer Dyskalkulie?
Wie können Eltern die Dyskalkulie-Therapie ihres Kindes unterstützen?
Wie lange dauert die Behandlung einer Dyskalkulie?
Wie verläuft eine Dyskalkulie?
Wie ist die Prognose bei einer Dyskalkulie?
Wie wirkt sich eine Dyskalkulie auf den Alltag aus?
Wie kann ich einer Dyskalkulie vorbeugen?
Übernimmt die Krankenkasse die Kosten für die Behandlung einer Dyskalkulie?